Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie haben Ihre Gesprächspartnerin danach gefragt, was diese beruflich macht und erhalten die Antwort «Ich bin selbstständig!».
Ich selbst habe diese Frage oft gehört und genauso beantwortet und in einigen Fällen hat mein Gegenüber nicht weitergefragt. Und genau hier wird es jetzt spannend!
Was denken Sie, was eine Person tut, die selbstständig ist?
Eine eigene Firma mit Mitarbeitenden führen? Projektarbeit auf Freelance Basis? Portfolio-Working als «digital nomad» auf Ibiza oder Bali? Etwas ganz Anderes?
Tatsächlich gibt es viele Selbstständigkeits-Modelle. Alle haben jedoch eines gemeinsam: Die Verantwortung für Risiko und Erfolg liegt beim Selbstständigen «selbst». Garantierte monatliche Gehaltszahlungen, Sozialleistungen oder Fringe Benefits entfallen.
Selbstständigkeit hat damit zwangsläufig immer mit der individuellen finanziellen Situation zu tun und somit mit der eigenen finanziellen Risikobereitschaft.
In unserer Beratungspraxis (Klienten im Alter 40+, aus einer Festanstellung als Experten und Führungskräfte kommend) werden vor allem folgende Modelle der Selbstständigkeit relevant:
#1 Start-up
Ein klassisches Start-up heisst, eine möglichst innovative Geschäftsidee im Bereich Produkt oder Dienstleistung in den Markt zu bringen. Ziel ist das Wachstum der Firma in Bezug auf Umsatz, Märkte und Mitarbeitende.
Häufig braucht es neben den Investitionen für die eigentliche Firmengründung weiteres Kapital und Know-how um das Unternehmen zu entwickeln. Hier spielen Investoren, Business Angels und Business-Netzwerke eine zentrale Rolle. Oft wird eine Aktiengesellschaft (AG) als Gesellschaftsform gewählt.
#2 Freelancing
Es geht um das Anbieten der eigenen Expertise und Erfahrung im Markt. Das Ziel ist nicht das Wachstum des Unternehmens, sondern das Verdienen des eigenen Lebensunterhalts. Dies in Form von Mandaten und Projekten, die für verschiedene Unternehmen auf eigene Rechnung und Verantwortung durchgeführt werden.
Entweder bestehen eigene Kontakte zu den auftraggebenden Firmen, oder die Akquise erfolgt über Unternehmen, die diese Kundenkontakte besitzen und mit Projektanfragen auf ihr Freelancer-Netzwerk zugehen.
Je grösser die eigene Expertise und Reputation im Markt und je grösser das eigene Netzwerk, desto wahrscheinlicher ist eine stabile Auslastung und damit ein stabiles Einkommen.
Rechtsformen können sowohl Einzelfirma als auch GmbH (seltener AG) sein. Hier sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass mit Gründung einer GmbH oder AG auch der Anspruch auf RAV-Leistungen entfällt (wir werden uns dem Thema in einem separaten Beitrag widmen).
#3 Portfolio
Beim Portfolio geht es um eine Kombination von verschiedenen Tätigkeits-Modulen, gelegentlich in einem Mix aus selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit.
Das wichtigste Element eines Portfolios ist das «Anker»-Modul. So bezeichnen wir die Tätigkeit im Portfolio, mit der stabil 60+ % (der Anteil kann individuell variieren) des notwenigen Lebenseinkommens erzielt werden. Das kann eine Festanstellung sein, die mit einem deutlich reduzierten Beschäftigungsgrad geführt wird, oder ein gut planbares, regelmässiges, Einkommen über Freelance-Mandate, VR-Mandate, Lehraufträge und ähnliches.
Ein Portfolio kann ebenfalls pro bono-Module enthalten, wie beispielsweise freiwillige Verbands- und Beratungstätigkeiten.
Das Portfolio-Modell ist für all jene spannend, die finanziell (auch in Bezug auf Pensionskassenleistungen) abgesichert sind und die Freiraum suchen, um ihre vielfältigen beruflichen Interessen und Fähigkeiten weitgehend selbstbestimmt auszuleben.
Der selbstständige Teil des Portfolios wird in der Regel über das eigene Unternehmen abgewickelt (Rechtsform GmbH, weniger oft AG, Einzelfirma).
Wer eignet sich für die Selbstständigkeit? Und welches Modell ist das richtige?
Bei allen Modellen empfiehlt sich der Start mit einem finanziellen Polster, das sicher in den ersten 2 Jahren als Backup zur Verfügung steht. So lange braucht es mindestens (beim Start-up rechnen wir mit 5 Jahren), um das gewählte Modell ins Laufen zu bringen.
Bei allen Modellen macht ein Business Case samt Finanzplanung viel Sinn.
Ein weiteres wichtiges Kriterium ist das realistische Bild über das eigene «Können». Welche Expertise kann ich beisteuern, wie kann ich mich im Markt glaubwürdig positionieren? Gibt es ein realistisches Marktinteresse für mein «Können»?
Zentral ist auch das Hinterfragen der eigenen Motivation (siehe unser Blogbeitrag Selbstständigkeit 1.0 – Von Wunsch und Wirklichkeit). Und schliesslich gilt es anzusehen, ob die Selbstständigkeit mit dem eigenen Wertesystem und der eigenen Persönlichkeit vereinbar ist.
Als Selbstständige/r braucht es vor allem Resilienz, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel (was will der Kunde und warum?), den Spass am Netzwerken und an der Akquisition, Risikobereitschaft, Optimismus, Pragmatismus und nicht zuletzt, eine hohe Frustrationstoleranz.
Business Case, Produkt/Dienstleistung, Finanzplanung und Expertise sind eine zentrale Grundlage – über den Erfolg oder Misserfolg aber entscheidet die Persönlichkeit des/der Unternehmers/in.
In der Beratung schauen wir die genannten Punkte systematisch an. So können unsere Klienten eine bewusste Entscheidung treffen und die Weichen für die Zukunft stellen. Fällt die Wahl auf die Selbstständigkeit und auf eines der genannten Modelle, so geht es an die «Kür» und damit an die Umsetzung, die wir je nach Programm als Mentoren und Coaches begleiten.
Auch wenn der Prozess dorthin in meiner Beschreibung für manch eine/n eher analytisch und mühsam anmutet und sich mit dem eingangs erwähnten Bild des cool relaxten Selbstständigen am Palmenstrand so gar nicht zusammenbringen lässt – der Weg lohnt sich, weil er zu nachhaltigen Entscheidungen führt und damit einen wichtigen Beitrag zur individuellen Lebenszufriedenheit leistet.